Henry Lime ist ein Privatdetektiv irgendwo in einer großen Stadt in den USA. Er schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben.
Hier ist ein Teil einer seiner Geschichten.
DAS ERBSTÜCK
Henry Lime saß in seinem, wie er es nannte, Büro. Für wenig Geld konnte er sich ins Kellergeschoss eines Verwaltungsgebäudes in einem Industriegebiet einmieten. Wenn er an seinem Schreibtisch saß und aufschaute, hatte er die Schuhe der Passanten auf Augenhöhe. So tief war er buchstäblich gesunken.
Seufzend sog Henry an seinem Zigarillo. Dann griff er nach dem silbernen Flachmann auf seinem Schreibtisch, in dem sich ein Porträt von Phil Marlow befand. Henry prostete dem Bild und seinem dunkelbraunen Holzrahmen mit einem traurigen Lächeln zu, legte den Kopf in den Nacken und genehmigte sich einen Schluck Bourbon.
Während er spürte, wie das scharfe Getränk seinen Hals herunter rann, hob er den Flachmann nochmal grüßend in Richtung seines Vorbilds. „Du wärst nie so weit gekommen, Phil“, dachte er und stellte die kleine Metallflasche wieder auf den Schreibtisch. Sein Blick wanderte wehmütig über den unordentlich mit Akten übersäten Schreibtisch.
Henry griff nach der obersten Mappe, lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und besah sie genauer an. MABEL stand darauf. Er zog an seinem Zigarillo und schlug den Deckel auf. Als er das postkartengroße Foto sah, war er sofort wieder im Bilde. Darauf war eine Mädelsclique von Anfang bis Mitte zwanzig in Bikinis und Badeanzügen an einem Strand. Sie hielten Cocktails in den Händen und schienen gut gelaunt zu sein. Er blies den Rauch aus, griff in die Schublade und entnahm ihr eine Lupe, um das Foto eingehender zu betrachten. „Die Dritte von links“, hatte der verzweifelte Klient gesagt.
Henry musste schmunzeln, als er an den Mann dachte. Er hatte etwas von einem deutschen Schlagersänger an sich.
Henry ließ die Lupe über der zierlichen, jungen Frau wandern. Sie trug ihre langen, blonde Locken nach hinten gesteckt, sodass die Stirn frei lag und die Haare ihr hübsches, ovales Gesicht umrahmten, dessen volle, rote Lippen herausfordernd zu lächeln schienen und dabei tadellos weiße Zähne entblößten. Henry musste lächeln. Ja, das war ein heißer Feger gewesen. Der Klient, der nur Rudy genannt werden wollte, hatte ihn beauftragt, seine Verlobte wieder zu finden, die seiner Kreditkarte verschwunden war. Mit etwas Hilfe seiner ehemaligen Kollegen konnte Henry sie nach ein paar Tagen aufspüren – in einem Motelzimmer am anderen Ende der Stadt, im Bett eines anderen Mannes. Rudy nahm es erstaunlicherweise sehr gelassen auf, als Henry ihn darüber informierte. Er schien froh zu sein, dass es ihr gut ging und er wusste, wo sie war. Nachdem er ihn großzügig bezahlt hatte, verließ Rudy Henrys Büro und ließ das Foto zurück. Henry hatte nie wieder von den beiden etwas gehört.
Henry wandte sich dem Notebook auf seinem Schreibtisch zu. Diesen Akt musste er auch noch ordentlich abtippen und aufbereiten. Irgend eine unterbeschäftigte Behörde war auf die schwachsinnige Idee gekommen, dass alle Detektive ein digitales Archiv zu führen hätten, wenn sie ihre Lizenz behalten wollten. Henry fluchte und legte die Akte MABEL in dem von der Behörde vorgeschlagenen Programm an.
In diesem Moment ließ die tief stehende Nachmittagssonne einen Schatten durch das Büro und über Henrys Gesicht wandern. Herny hob den Kopf. Ein paar elegante Damenschuhe, an die sich schlanke, bestrumpfte Beine anschlossen, bewegten sich an der Fensterfront vorüber. Henry folge dem unsicher erscheinenden Schritt der Schuhe, bis zu der Ecke, an der sich der Treppenabgang zu seinem Büro befand.
Dort verharrte die Frau einen Moment unschlüssig. Henry sah das Business-Kostüm, und stellte fest, dass nicht nur die Beine schlank waren. Unterhalb der Knie verschwanden die Nylons unter einem dunkelblauen Rock, oberhalb dessen ein gleichfarbiger Blazer zu sehen war. Das dunkelbraune Haar endete in einem Pferdeschwanz, ungefähr in der Mitte der Schulterblätter. Er maß die schlanke Gestalt der offenbar jungen Frau, die sich eben entschlossen hatte, die Treppe zu seinem Büro hinabzusteigen.
Henry arrangierte die Akten auf seinem Schreibtisch anders, um etwas geschäftiger zu wirken. Ein unbeteiligter Beobachter hätte den Eindruck gewonnen, Henry sei sehr in die Mabel-Akte vertieft, während er tatsächlich die Ohren spitzte und den Tritten der Schuhe auf der Treppe zu lauschen. Klack, klack, klack! Sie setzte den Fuß jedesmal sehr bewusst und entschlossen auf. Gleich hätte sie die Tür erreicht. Die Schritte endeten, und Henry hörte, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Mit einem leisen Quietschen öffnete und schloss sich die Haustür. Gleich darauf klopfte es an der Bürotür.
Henry ließ einen langem Augenblick verstreichen, ehe er einen tiefen Zug von seinem Zigarillo nahm und „Herein!“ sagte. Die Tür öffnete sich, und die Frau trat ein. Henry blies den Rauch langsam aus, während er sie musterte. „Ja“, dacht er, „ 1,64 groß, schlank, Mitte zwanzig, mit einem hübschen, herzförmigen Gesicht. Sie war elegant und geschmackvoll gekleidet, wie es die Schuhe erwarten ließen. Die Dame hatte Geld. Geld und Geschmack.“ „Hallo!“, sagte er und bedeutete der jungen Frau, hereinzukommen und ihm gegenüber Platz zu nehmen.
Der viele Rauch, der in der Luft hing, schienen ihr in den Augen zu brennen. Jedenfalls blinzelte sie häufig, während sie ihre braunen Augen durch das Büro streifen ließ.
„Ich bin Henry Lime“, stellte er sich vor und deutete auf das Namensschild auf seinem Schreibtisch.
„Simmonds“, sagte sie. Und nach einer kurzen Pause, in der sie sich setzte, „Julia!“ und lächelte freundlich aber mühsam. Henry reichte ihr die Hand, und musterte ihr Gesicht. Die Augen waren gerötet, und irgendwie schien sie verzweifelt zu sein.
„Was kann ich für Sie tun?“, wollte Henry wissen. Julia griff in ihre Handtasche und zog ein Foto heraus. Sie warf einen prüfenden Blick darauf, ehe sie es Henry herüberreichte. Henry besah sich das Foto. Es zeigte Hand und Unterarm einer älteren Frau. Am Ringfinger war ein auffälliger Ring.
„Ja?“, fragte Henry. Der Blick der jungen Frau wurde melancholisch. „Der Ring auf dem Bild ist verschwunden. Können Sie ihn wieder beschaffen?“ Henry hob die Augenbrauen. „Was hat es denn mit dem Ring auf sich?“, wollte er wissen. „Er gehörte meiner Großmutter. Sie hat ihn eigentlich nie getragen, sondern ihn in einer besonderen Schatulle aufbewahrt. Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich irgendwann einmal mit ihrem Schmuck gespielt. Ich weiß nicht, was da in sie gefahren ist, jedenfalls hat sie diesen Ring extra für mich hervorgekramt. Er hat mich sofort fasziniert, weil er anders war, als all die anderen Ringe, Kette und Broschen. Irgendwie hatte er etwas magisches an sich. Ein großer Herrenring aus Silber mit fremdartigen Zeichen und Motiven. Kaum hatte ich den Ring gesehen, erschrak meine Großmutter. Sie nahm ihn mir weg und sagte, ich würde ihn von ihr erben. Als kleines Mädchen wusste ich damit nichts anzufangen. Aber alles Bitten und Betteln war vergeblich. Dieses Mal und alle anderen Male danach auch. Ich bekam diesen Ring nie mehr in die Hände. Und, wenn ich ehrlich bin, habe ich ihn irgendwann auch vergessen.“ Henrys Zigarillo war ausgegangen. Er zündete sich einen neuen an, blies den Rauch aus und lud Julia ein, fortzufahren.
„Meine Großmutter ist vor zwei Wochen verstorben. Es war ein langer Tod, sodass wir bei allem Schmerz Trost darin fanden, sie von ihrem Leid erlöst zu wissen. Nach Ihrem Tod haben wir eine genau Inventur durchgeführt und jeden einzelnen Wertgegenstand erfasst. Meine Großmutter war eine wohlhabende Frau, müssen Sie wissen.“ Sie lächelte kurz. „Jedenfalls war da dieses Foto“, sie deutete auf die Fotografie, „und ich erinnerte mich an den Ring. Ich habe natürlich sofort gefragt, was es damit auf sich habe. Niemand wusste etwas darüber. Nach einigem Suchen konnten wir ihn dann tatsächlich finden. Ich wollte so kurz nach Großmutters Tod keine Ansprüche erheben. Das gehört sich doch nicht, oder?“; Julia schaute Henry fragend an, der zustimmend nickte.
„Letzte Woche dann war die Beerdigung“, für die junge Frau fort, „und als wir zu Großmutters Haus kamen, fanden wir es durchsucht.“ Henry hob den Kopf und blickte interessiert und fragend in Julias Richtung. „Nur dieser Ring hat gefehlt. Sonst wurde nichts gestohlen. Es gab auch keine sichtbaren Einbruchsspuren. Die Polizei meinte, wir hätten uns das eingebildet und den Ring verlegt. Sie haben nur widerwillig eine Akte angelegt und sofort gesagt, wir sollten uns keine großen Hoffnungen machen.“ Henry nickte. Er kannte die Situation in den Revieren. Überarbeitete Polizisten, die kaum in der Lage waren, alle echten und vermeintlichen Vorgänge zu aufzunehmen und zu bearbeiten. Dazu kamen der ständige Druck von oben und von der Öffentlichkeit, der Kriminalität endlich Herr zu werden oder zumindest die prominenten Fälle aufzuklären, die Gewaltbereitschaft ihrer Kunden und natürlich die laute Kritik in den meinungsführenden Medien, wenn etwas schief ging oder wenn ein Polizist geschossen hatte. Kein Zuckerschlecken. Da war ein bei einem vermeintlichen Einbruch verschwundener Ring einfach nur einer von vielen Verwaltungsvorgängen, die nach angemessener Zeit geschlossen wurden, weil die Täter nicht ermittelbar waren, sofern nicht der Zufall etwas anderes zutage förderte.
Henry nahm seine Lupe zur Hand und betrachtete den Ring eingehender, während er den Rauch tief inhalierte und langsam wieder ausblies. Ein großer, schwerer Siegelring. Wie es schien, war er aus massivem Silber. Aus dem Fingerstück entwickelte sich das runde Siegelstück. Die Motive, fand Henry, sahen irgendwie ägyptischen aus. Ornamente aus geschwärztem Silber umrahmen das Hauptmotiv, das auf einer Vertiefung aus ebenfalls geschwärztem Silber thronte.
Henry drehte das Bild hin und her. Das Hauptmotiv schien so etwas wie ein Auge zu sein, aus dem ein Bart und eine Zunge wuchsen. Auf der anderen Seite des Auges war eine Augenbraue zu sehen.
Er legte das Bild zu Seite und tippte etwas auf die Tastatur des Notebooks ein, um einen Eindruck zu machen. Er blickte noch ein paar Sekunden auf den Bildschirm, ehe er den Kopf hob. Julia blickte ihn in gespannter Erwartung an. Henry nickte. „Ich soll also diesen Ring finden?“, fragte er.
„Ja, bitte“, antwortete Julia. „Aus sentimentalen Gründen. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass er einen großen Wert hat. Aber irgend etwas muss an ihm sein, wenn er als einziges gestohlen wird, meinen Sie nicht?“ „Ich denke, das war kein Zufallsfund“, sagte Henry. „Ich höre mich mal um. Versprechen kann ich Ihnen natürlich nichts.“ Julias Gesichtsausdruck wechselte von hoffnungsvoller Freude zu Niedergeschlagenheit. „Ganz ehrlich, Mr. Lime“, begann sie, „Sie sind meine letzte Hoffnung. Die Polizei nimmt mich nicht ernst. Und ich habe schon andere Detektive gefragt, die mich abgewiesen haben. Ich denke, denen war der Ring zu popelig. Auf dem Weg zu meinem Auto, sah ich eben Ihr Firmenschild und habe mir gedacht, dass ich noch einen allerletzten Versuch unternehmen sollte. Deswegen bin ich hier.“ Etwas an dieser Aufrichtigkeit und Verzweiflung berührte Henry. „Ich schaue, was ich machen kann“, versprach er. „Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, rufe ich Sie an, sobald ich etwas weiß.“ Diese Worte zauberten ein Leuchten in die Augen seiner Klientin und ein Lächeln in ihr Gesicht. Sie kramte in ihrer Handtasche.
„Danke, Mr. Lime“, sagte sie, während sie sich erhob und ihm eine Visitenkarte herüber reichte. „Bedanken Sie sich, wenn ich Ihnen den Ring gebe“, meine Henry, „oder zumindest etwas darüber sagen kann.“ Er nahm Julias Visitenkarte entgegen und sah ihr nach, wie sie sein Büro verließ. Seine Ohren folgten dem Klappern ihrer Schuhe auf der Treppe nach oben. Unwillkürlich hob er den Kopf, um zu sehen, ob sie nochmals an seinem Fenster vorüber kam. Nein, stellte er fest, sie war wohl tatsächlich vorbei gekommen und hatte sich spontan entschieden, ihr Glück nochmals zu versuchen.